1. DAS ČIURLIONIS-HAUS IN VILNIUS
Das Čiurlionis-Haus ist jenes Gebäude, in dem Mikalojus Konstantinas Čiurlionis nach seiner Entscheidung, sich in Vilnius niederzulassen, im Herbst 1907 ein Zimmer zur Untermiete bezogen hat.
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Das Čiurlionis-Haus ist jenes Gebäude, in dem Mikalojus Konstantinas Čiurlionis nach seiner Entscheidung, sich in Vilnius niederzulassen, im Herbst 1907 ein Zimmer zur Untermiete bezogen hat.
Zu jener Zeit war Čiurlionis bereits ein gereifter und anerkannter Maler und Komponist sowie ein Künstler mit einer neuen Weltsicht. Mit seinem Engagement in der litauischen Kulturbewegung brachte er sehr deutlich seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Kunst die Welt verändern kann und dass der Standpunkt eines Künstlers im Leben und seine Teilnahme an der gesellschaftlichen Erneuerung für ihn nicht weniger wichtig waren als die kreative Suche und der persönliche Selbstausdruck. Während Čiurlionis in diesem Haus wohnte, leitete er einen litauischen Chor, erteilte Musikunterricht, organisierte Ausstellungen und Konzerte und engagierte sich aktiv für die litauische Kultur. Dadurch erschuf er eine Zukunftsvision von einem kreativen, inspirierenden Litauen.
Die von uns ausgerichteten Bildungsprogramme, deren Schwerpunkt in der Anregung der Kreativität und der Einheit der Künste besteht, werden sowohl von Kindern im Vorschulalter als auch von Senioren im Hochschulstudium wahrgenommen. Häufig in diesem Haus zu Gast sind auch junge Talente von Musik- und Kunstschulen, die hier ihre ersten Schritte auf dem Weg zur großen Bühne gehen. Es gibt zwei Arten von Ausstellungen, die man hier besuchen kann: In den einen zeigen wir das Umfeld von Čiurlionis, und in den anderen werden von Čiurlionis‘ Werken inspirierte Erkundungen präsentiert. Eng verbunden mit dem Erbe von Čiurlionis und seinem Bemühen, in der Musik eine lebendige, sich ständig verändernde und wesentliche geistige Einsichten vermittelnde Form des Schaffens zu erblicken, sind auch die hier stattfindenden Konzertveranstaltungen.
Diese ideelle Verbundenheit mit dem Erbe von Čiurlionis ist für die von uns ausgerichteten Kulturveranstaltungen von besonderer Aktualität. Ganz gleich, ob es sich um Buchpräsentationen, Filmvorführungen oder Podiumsdiskussionen handelt. Bei unseren Stadtführungen durch Vilnius kann man jene Orte kennenlernen, an denen Čiurlionis konzertiert und mit dem litauischen Chor geprobt hat, wo Ausstellungen seiner Gemälde stattgefunden haben und wo der Künstler gemeinsam mit Sofija Kymantaitė und anderen Persönlichkeiten der litauischen Nationalbewegung die Grundlagen für die Kultur und den Staat des zukünftigen Litauen geschaffen hat. Für Menschen, die Schauplätze von Čiurlionis in Vilnius individuell erkunden möchten, bieten wir ein mobiles Programm mit dem Titel „Čiurlionis in Vilnius“ an.
Das Čiurlionis-Haus arbeitet eng mit dem Projekt „Der nationale Kulturweg von Čiurlionis“ zusammen, das Čiurlionis‘ Persönlichkeit und Biografie in ganz Litauen verbreitet. In diesem Projekt haben wir eine wichtige Führungsrolle übernommen und erarbeiten die Kulturprogramme.
Das Čiurlionis-Haus ist außerdem darum bemüht, den Namen des Künstlers und Komponisten auf der ganzen Welt zu verbreiten und richtet im Sinne dieses Anliegens Konferenzen und andere internationale Foren, Wanderausstellungen, Konzerte sowie Kunstprojekte aus, bei denen ausländische Künstler Themen des Schaffens von Čiurlionis neu interpretieren.
Das Motto, mit dem das Čiurlionis-Haus seine Besucher begrüßt, sind folgende Worte des Künstlers:
„Komm mit mir mit, mein Freund, wenn du möchtest. Ich eile in jenes Land, unterwegs werde ich dir sehr interessante Dinge erzählen.“
„K. Čiurlionis, Absolvent des Warschauer sowie des im Ausland befindlichen Leipziger Konservatoriums, ist in Vilnius niedergelassen und erteilt Unterricht im Klavierspiel sowie in Musiktheorie. Seine Adresse: Andrejewstraße 11, Whg 6.“ Diese Anzeige erschien zu Beginn des Jahres 1908 in der Zeitung „Vilniaus žinios” (Vilniuser Nachrichten).
Sie informierte darüber, dass der Künstler in Vilnius nicht als Gast weilte, sondern in der Stadt ansässig war. Die Tatsache, dass Čiurlionis nach Vilnius gezogen war, sollte sich als sehr wichtiges Ereignis für die gesamte litauischen Nationalbewegung erweisen. Auf den zu jener Zeit die beste Bildung und die höchste internationale Anerkennung genießenden litauischen Künstler und Komponisten waren damals aller Augen gerichtet. Welchen Eindruck haben Čiurlionis‘ Persönlichkeit und Werk auf seine zeitgenössischen Augenzeugen gemacht? Wie erinnerten sich die neuen Freunde des Komponisten an sein kleines Zimmer in jener Straße, die heute Savičius-Straße heißt?
Čiurlionis‘ ersten Besuch in Vilnius im Zuge der Vorbereitungen der Ersten Litauischen Kunstausstellung im Palais von Petras Vileišis schilderte in ihrem Tagebuch die damals unter dem Pseudonym Vaidilutė bekannte Schriftstellerin Ona Elžbieta Pleirytė-Puidienė folgendermaßen: „Čiurlionis‘ Gemälde sind ungewöhnlich. ch könnte nicht einmal ohne Weiteres sagen, was diese Gemälde sind … Ich habe viele europäische Museen besucht, jedoch nie etwas Ähnliches gesehen […] Ungewöhnlich ist auch Čiurlionis selbst – er ist einer von jenen Menschen, die alle Blicke und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch zugleich durch ihre besondere, tiefe Konstruktion Beklommenheit wecken. Er ist von mittlerem Alter und Wuchs, mit einem ausgeprägten, ja sogar scharf umrissenen Profil des Gesichts und eher unschön und trübsinnig. Doch seine großen, tief blickenden Augen, sein ruhiger Schatten von offenkundiger Traurigkeit und seine ungewöhnliche Intelligenz heben ihn aus jedem Umfeld heraus …“
Der Künstler Lew Antokolski, der Čiurlionis später helfen wird, sich in Petersburg einzuführen, erinnert sich folgendermaßen an seinen Besuch in dessen Vilniuser Wohnung: „Ich kann mich noch an jenen Herbstabend erinnern, an dem ich ihn in seinem winzigen Zimmer in der Andrejewstraße besucht habe, in dem sich nichts außer einem Flügel, einem Haufen Notenblätter und an den Wänden aufgehängter getrockneter herbstlicher Zweige befand.“ Und Antokolski fügte hinzu: „Dort war er allein mit seinen genialen Ideen, die Töne seiner Musik erstaunten mich durch ihre erbarmenswerte Traurigkeit, wie die schwarzen, scharfen Flügel, die die Luft in seinem Gemälde ‚Sehnsucht‘ schneiden.“
Der Komponist Juozas Tallat-Kelpša schildert in seinen Erinnerungen das Zimmer von Čiurlionis detaillierter. Sie vermitteln uns einen klareren Gesamteindruck: „Auf seine Einladung hin ging ich ihn am nächsten Tag besuchen … Sein Zimmer war niedrig, aber geräumig. In ihm standen ein schmales Eisenbett und daneben ein kleiner Tisch mit einem kleinen Stuhl. An der anderen Wand befand sich sein Flügel von der Firma Lippenberg. Von ihm pflegte Čiurlionis zu sagen, er sei sehr gut, weil er kräftig gebaut und billig sei – er habe nur 350 Rubel gekostet. Über dem Flügel an der Wand hing ein Kiefernzweig. Über dem Bett ein weiterer. Außerdem gab es noch ein paar Stühle und einen Koffer mit seiner gesamten Habe – Handschriften; auf dem Flügel ein Stapel Notenblätter, auf dem Fensterbrett ein Fotoapparat. Das war die gesamte Einrichtung seines Zimmers.“
Čiurlionis wirkte auf seine Freunde in der litauischen Nationalbewegung oft rätselhaft und unverständlich, und wegen seiner schwachen Kenntnisse der litauischen Sprache auch verschlossen und recht unnahbar, jedoch aufgrund seiner ungewöhnlichen geistigen Welt gleichzeitig magisch anziehend und interessant. Alle Schilderungen seiner schöpferischen Durchbrüche von seinen Gesinnungsgenossen bringen nicht nur die ungewöhnliche Achtung vor seinem Talent zum Ausdruck, die ihm bereits zu jener Zeit entgegengebracht wurde, sondern vermittelt uns auch jedes Mal aufs Neue, welch eine außergewöhnliche Persönlichkeit in den Jahren 1907 und 1908 in diesem Zimmer gewohnt hat. Der Schriftsteller Liudas Gira war Zeuge eines solchen schöpferischen Durchbruchs und hat in seinen Erinnerungen die Atmosphäre in diesem Zimmer verewigt: „Ich fand ihn am Flügel sitzend vor, als er die Träume seiner Seele mit einer gleichsam vom alten (Donnergott) Perkūnas entliehenen Kraft und seiner inspirierten Hand aus den Tasten des Flügels herausschlug und gleichsam seine unermessliche Sehnsucht zu beschwören suchte. Er improvisierte. Ich bat ihn, das Lied seiner Seele nicht zu unterbrechen. Und so hatte ich dieses einzige Mal die Gelegenheit zu vernehmen, wie ein Genie ganz für sich allein, von der Inspiration überwältigt, etwas erschafft. Es war eine gewaltige, eines Beethoven würdige Improvisation. Ungestüme Akkorde wurden geboren und vergingen und sogleich durch die nächsten ersetzt, die noch ungestümer, noch schöner waren … Die Töne wogten wie ein sturmgepeitschtes Meer. Mal weinte und heulte der Flügel wie eine trauernde dzūkische Alte bei der Beerdigung ihren einzigen Sohns unter einem weißen Hügel aus Sand, mal krachte er wie Donnerschläge, als kämen alle alten Götter zusammen herbei, um Rache zu nehmen für ihre Herabwürdigung, oder wie die Hexen, die um Mitternacht zum Baum eines Gehenkten in einem dzūkischen Kiefernwald zum Hexensabbat sausen … Kaum endete eine Tonfolge, begann die nächste. Wie Blitze ergriffen seine Hände die Akkorde aus der gesamten Klaviatur und gebaren einmal Töne in Moll und dann wieder in Dur. Die Melodien in piano und forte wogten wie die Wipfel eines dzūkischen Kiefernhains im Wind, erst langsam, aus der Ferne heraufziehend und plötzlich mit gewaltigem Rauschen den gesamten Wald erschütternd … Und in diesem Rauschen der Töne waren, zunächst selten und später häufiger unsere traurigen, mächtigen Glocken zu vernehmen … Und sie drangen so in mein Herz hinein, dass ich meinte, es sei ganz erfüllt von ihrem Klang, von ihrem Beben …“
Čiurlionis‘ geistiger Lebensweg beginnt in Druskininkai. Es ist die Stadt der Kindheit des Künstlers, umgeben von der ruhig dahinfließenden Memel und alten Kiefernwäldern, von legenden- und sagenumrankten Sümpfen und leise durch die Felder klingenden litauischen Volksliedern, von den in der Ferne hallenden Glockenklängen der Dorfkirchen, von Vogelstimmen und dem Rauschen des Windes, die sich später verweben sollten zu jener magischen, von Symbolen und Metaphern durchdrungenen einzigartigen Welt der Bilder und Töne von Čiurlionis.
Seine Erinnerungen an die Kindheit, die emotionale Bindung an seine Familie und die Umgebung wird den Künstler immer wie ein Magnet zu seiner Heimat hinziehen und für ihn stets, selbst in den finstersten Momenten seines Lebens, eine Quelle von Licht und Harmonie sein: „Ich fühle mich hervorragend, weil ich soeben vom Flügel aufgestanden bin. Ich habe verschiedene Kompositionen von Druskininkai gespielt und bin dabei in Gedanken über die Chaussee nach Pariečė gestreift, durch unseren mit Kartoffeln und Stachelbeeren bepflanzten Garten, durch das grüne Gras an der Kirche, durch das langsam Baltutis zu schlendern pflegte, mit seinem ein wenig verdrehten rechten Bein. Ich habe mich auch an unser altes kleines Boot erinnert, aus dem man ständig Wasser schöpfen musste. Wie viel Tragikomisches es gesehen hat!“ (Aus einem Brief von Čiurlionis an seinen Freund Petras Markevičius vom 16. Juni 1902 vom Studium in Leipzig.)
Deshalb kam Čiurlionis, ganz gleich, ob er gerade in Warschau, Leipzig, Vilnius oder Sankt Petersburg lebte, zu jeder sich bietenden Gelegenheit nach Druskininkai zurück. Auf diese Gelegenheiten und Möglichkeiten hat er mit großer Sehnsucht und Begeisterung gewartet und an sie mit freudigem Herzen gedacht: „Nun bin ich schon den dritten Monat hier, es bleiben noch sieben, das ist, ehrlich gesagt, noch lang, aber dann … Ach! Mit welcher Freude werde ich nach Druskininkai fahren – sie wird sogar Staubwirbel auslösen!“ (Leipzig, am 17. Dezember 1901). Dies sind Zeilen aus einem Brief an seine Mutter Adelė Čiurlionienė, der er, ihr ältester Sohn, sich in besonderer Weise emotional verbunden fühlte. Auch die jüngeren Brüder (Povilas, Stasys, Petras und Jonas) und Schwestern (Marija, Juzė, Valerija und Jadvyga) konnten immer die starke Aufmerksamkeit und Unterstützung ihres großen Bruders spüren: In seinen Briefen aus Warschau und Leipzig erkundigte sich Čiurlionis unablässig nach ihrem Ergehen in der Ausbildung und im Leben, und wenn er aus Warschau nach Hause kam, dann begann für alle eine glückliche Zeit von Spielen und Freuden. Vielleicht aus diesem Grund haben alle Brüder und Schwestern des Künstlers als Heranwachsende das Klavierspiel erlernt und sind in späteren Jahren zusammen mit ihrem ältesten Bruder zum Zeichnen und Malen an die Memel oder an das Flüsschen Ratnyčia und manchmal sogar mit Übernachtung in das Raigardas-Tal gezogen.
Druskininkai ist für Čiurlionis immer ein Hafen der geistigen Ruhe gewesen: Hier, umringt von seiner großen Familie, kamen ihm die schönsten Momente der Inspiration und die eindrücklichsten schöpferischen Ideen, die bisweilen selbst ihn, einen mit dem größten denkbaren Tempo arbeitenden Künstler überforderten: „Weißt du, Zoselė – ich male! Seit Donnerstag male ich täglich 8-10 Stunden. Es kommt nichts dabei heraus, aber das macht nichts. Ich male eine Sonate – sie ist schon vollständig entworfen (vier Teile) und fällt mir sehr schwer, doch ich würde sie gern so schnell wie möglich beenden, weil mir schon eine zweite vor Augen zu stehen beginnt.“ Dies schrieb Čiurlionis am 9. Juni 1908 in einem Brief an seine Verlobte Sofija Kymantaitė aus Druskininkai, wohin er für den Sommer aus Vilnius abgereist war.
Diese alljährlichen der Freilichtmalerei vorbehaltenen „Ferien“ konnten sich bisweilen bis zu einem halben Jahr hinziehen. Sie markieren, wie Wegzeichen gleichsam, die Entwicklung von Čiurlionis‘ schöpferischem Denken, den Wandel seines Stils und seiner Interessen. Wenn wir den in Druskininkai entstandenen musikalischen und malerischen Werken nachgehen, können wir uns am besten ein Bild von der stilistischen Entwicklung von Čiurlionis‘ Schaffen machen.
Obwohl Čiurlionis 1907 in Vilnius in erster Linie als Maler eintrifft, der an der Ersten Litauischen Kunstausstellung teilnimmt, beginnt sein Schaffensweg mit der Musik.
Plungė:
Da er sehr früh ein für ein Kind außergewöhnliches Empfinden für die Musik zeigte, brachte sein Vater dem gerade einmal fünfjährigen Kastukas (wie er damals zärtlich genannt wurde) das Klavierspiel bei, und als er zehn Jahre alt war, vertrat er seinen Vater bereits gelegentlich an der Orgel in der Kirche von Druskininkai. Durch Vermittlung von Józef Markiewicz, einem mit der Familie befreundeten Arzt, geht er im Alter von 13 Jahren nach Plungė an die Orchesterschule am Hof von Graf Mykolas Oginskis (Michał Ogiński), um seine Musikausbildung fortzusetzen. Hier befindet sich der junge Musiker in einem besonders vorteilhaften Umfeld: Am Hof der Ogiński in Plungė wurden technologische Neuerungen und Kultur aufmerksam gefördert, die Familie schätzte Wissenschaft und Kultur sehr, im Schloss befanden sich eine ausgezeichnete Bibliothek sowie eine sehr große und reichhaltige Kollektion von Gemälden und anderen kulturellen Kostbarkeiten. Zudem waren die Angehörigen der Familie Ogiński seit den Zeiten der 1795 untergegangenen Polnisch-Litauischen Adelsrepublik leidenschaftliche litauische Patrioten. Mykolas Kleopas Oginskis (Michał Kleofas Ogiński), der Großvater von Michał Ogiński und ein bedeutender Komponist seiner Zeit, dessen Werke auch heute noch gespielt werden, hatte mit seinem Regiment am Kościuszko-Aufstand in Vilnius teilgenommen, mußte danach viele Jahre in der Emigration verbringen und hat sich sein Leben lang für Litauen engagiert.
An der Orchesterschule dieses Hofs erlernte Čiurlionis die Grundlagen der Musik, spielte im Orchester die Flöte und begann mit seinen ersten schöpferischen Versuchen. Außerdem ist er mit dem Orchester recht viel umhergereist und hat auf diese Weise auch zum ersten Mal die Ostsee gesehen: Im Schlosspark des Grafen Tyszkewicz (Tiškevičius) in Palanga fanden alljährlich Orchesterkonzerte statt. Zu anderen Jahreszeiten wurde das Orchester aus wichtigen Anlässen mit dem Palastorchester des in Rietava ansässigen Bruders von Michał Ogiński, Bogdan Ogiński, vereinigt. Im Jahr 1892, als zum Osterfest in der Kirche von Rietava der erste elektrische Kronleuchter in Litauen mit einhundert Lampen erstrahlte, hatte Čiurlionis höchstwahrscheinlich die Gelegenheit, mit dem Organisten und Komponisten Juozas Naujalis Bekanntschaft zu schließen, der nur wenige Jahre zuvor vom Studium am Warschauer Musikinstitut zurückgekehrt war.
Warschau:
Im Jahr 1894 gewährte Graf Michał Ogiński, der lebenslang nicht nur Čiurlionis‘ wichtigster Mäzen bleiben sollte, sondern auch ein enger Freund und Vertrauter, dem jungen Musiker ein Stipendium für das Studium an dem bereits erwähnten Warschauer Musikinstitut. Dort wählte Čiurlionis – ob zufällig oder auf Empfehlung, ist ungewiss – dieselben Professoren, bei denen auch Juozas Naujalis studiert hatte. Klavier studierte er bei einem der gebildetsten Männer im damaligen Warschau, dem Pianisten, Kunstkritiker und Schriftsteller Antoni Sygietyński und Komposition bei Zygmunt Noskowski, dem berühmtesten Warschauer Kompositionspädagogen, einem Komponisten, Dirigenten und führenden Kopf des städtischen kulturellen Lebens. Bei ihm am Warschauer Musikinstitut studierten auch Angehörige der Bewegung Junges Polen, die zukünftigen Komponisten Mieczysław Karłowicz, Karol Szymanowski, Ludomir Różycki und andere. Außerdem wurde bei Zygmunt Noskowski auch Čiurlionis‘ engster Freund Eugeniusz Morawski ausgebildet, der später mit ihm zusammen gleichfalls den Weg in die Kunst einschlagen sollte.
Obwohl Warschau am Ende des neunzehnten Jahrhunderts bereits seit Jahrzehnten nur noch eine Provinzstadt am Rande des Russischen Zarenreichs war, pflegte es weiterhin die Traditionen und Ambitionen der Hauptstadt und des kulturellen Zentrums der einstigen polnisch-litauischen Doppelmonarchie. Hier empfing den jungen Čiurlionis das mannigfaltige Panorama einer urbanen Kultur, in der in erster Linie das Erbe des großen Frédéric Chopin gepflegt wurde und die durchdrungen war von dem Streben nach einer nationalen Wiedergeburt. Der junge Komponist tauchte vollständig in das Studium der Komposition und in das bunte Treiben des städtischen kulturellen Lebens ein. Die Kompositionen seiner Studienzeit, besonders jene, die mit den Aufgaben des akademischen Studienplans verbunden waren, sowie seine Tätigkeit in der freien Zeit lassen nicht nur die ernsthaften Ambitionen des Studenten erkennen, sondern auch eine besondere Empfindsamkeit für die vorherrschenden Stimmen in seiner Umgebung. Zugleich stoßen wir in den musikalischen Aufzeichnungen von Čiurlionis auch auf zahlreiche aus Litauen mitgebrachte klangliche Erlebnisse seiner Kindheit: von Ausschmückungen litauischer Volkslieder bis hin zu musikalischen Traumlandschaften, die die Umgebung von Druskininkai atmen. Diese Werke stellen gleichsam die ursprüngliche, natürliche Stimme des Komponisten dar, die sich später zu der unverwechselbaren schöpferischen Welt der Klänge und Bilder von Čiurlionis entwickeln wird. Zum ersten Mal erklingt diese Mischung in dem im Jahr 1900 entstandenen symphonischen Poem „Im Wald“, das aus Anlass des Musikwettbewerbs des Grafen Maurycy Zamoyski verfasst und prämiert wurde. Dies markiert den Beginn der Geschichte der Tradition der litauischen symphonischen Musik. [Ein Fragment…]
Leipzig.
Im Herbst 1901 siedelte der junge Komponist dank der Unterstützung des Grafen Ogiński zu weiteren Studien nach Leipzig über. Diese Stadt zog bereits seit Jahrzehnten junge Musiker verschiedener Länder zum Studium an – mit der legendären, von Felix Mendelssohn Bartholdy gegründeten Musikhochschule, mit dem Gewandhausorchester, mit der jahrhundertealten Tradition des Knabenchors der Thomaskirche, mit den deutlichen Spuren, die Komponisten wie Bach, Clara und Robert Schumann und Brahms in der Stadt hinterlassen hatten, sowie mit weltberühmten Professoren und Komponisten wie Carl Reinecke und Salomon Jadassohn.
Čiurlionis, der kein Deutsch sprach und sich deshalb an diesem Brennpunkt der europäischen Kultur recht einsam fühlte, knüpfte besonders enge Beziehungen mit dem in Breslau geborenen Salomon Jadassohn an, der den Bestrebungen des aus Warschau kommenden Studenten wohl gesonnen war, während Reineckes akademischer, ja sogar altmodischer Stil bald eher zu einer Zwangsjacke für den jungen Komponisten wurde, der eine eigene Stimme suchte, bereits im Geist des angebrochenen 20. Jahrhunderts dachte und seine Partituren durch litauische Farben und die ihm angeborene Sehnsucht bereichern wollte. Als Ausweg erwiesen sich für Čiurlionis, der das Geheimnis der Orchestermusik zu ergründen suchte, die Konzerte des Gewandhausorchesters, und außerdem insbesondere die Bibliothek des Peters Notenverlags, in der er viele Stunden beim Studium der Partituren von Hector Berlioz und Richard Strauss zubrachte, die er sogar abschrieb. In Leipzig wurden mehrere symphonische Ideen von Čiurlionis geboren – die Ouvertüre „Kęstutis“, seine erste Sinfonie und das Konzert für Violoncello und Orchester. Leider sind davon lediglich die Noten zu „Kęstutis“ erhalten geblieben. Seine Einsamkeit hellte der Čiurlionis in Leipzig mit häufigen Besuchen im Kunstmuseum auf, er begeisterte sich für die deutschen Symbolisten, insbesondere Arnold Böcklin, und in den Weihnachtsferien kauft er Farben und Papier. Aus Leipzig sendet er seinen Freunden nicht nur Briefe, sondern auch selbst gezeichnete Postkarten, und als er im Juli 1902 sein Studienattestat bekommt, kehrt Čiurlionis nach Warschau bereits mit dem Entschluss zurück, seine Zeit sowohl der Musik als auch der Malerei zu widmen.
Schon in Leipzig hatte sich Čiurlionis immer stärker zur Kunst hingezogen gefühlt – er hatte seine Einsamkeit mit dem Malen beschwichtigt. Zurück in Warschau, schrieb er sich 1902 in die Zeichenschule von Jan Kauzik ein, und als im März 1904 die Warschauer Kunsthochschule gegründet wurde, trat er umgehend in sie ein.
Zum Direktor der Kunsthochschule wurde Kazimierz Stabrowski ernannt. Geboren im historischen Litauen, in der Nähe von Minsk, war Stabrowski ein Patriot seines Heimatlandes, das seine Eigenstaatlichkeit verloren hatte – mit der Warschauer Kunsthochschule war er einerseits bestrebt, die Kontinuität der nach dem Aufstand geschlossenen Warschauer Hochschule der Künste wiederherzustellen. Da er, andererseits, an den Kunstakademien von Sankt Petersburg und Paris studiert hatte, viel herumgereist und immer stärker in die Tätigkeit der polnischen theosophischen Gesellschaft involviert war, entwickelte Kazimierz Stabrowski gemeinsam mit seinen Kollegen an der Kunsthochschule ein an den neuen Tendenzen der zeitgenössischen westlichen Kunst orientiertes Lehrprogramm. Außerdem wurde Čiurlionis von Konrad Krzyżanowski unterrichtet, der gleichfalls an Neuerungen in der Kunst interessiert war, sowie von Ferdynand Ruszczyc, Karol Tichy, zeitweise auch von dem Bildhauer Xawery Dunikowski und anderen. Konstantinas (Čiurlionis) wurde als Musiker und Komponist geschätzt, erhielt aber auch sehr häufig Preise für seine Arbeiten sowohl in den angewandten als auch – ganz besonders – in den schönen Künsten und wurde sogar für ein Jahr von der Studiengebühr befreit.
In Warschau besuchte Čiurlionis viele Kunstausstellungen, sowohl aus dem Ausland als auch von polnischen Künstlern, im Salon von [Aleksander] Krywult und in der sogenannten Zachęta. Dort konnte er sich Originale von berühmten Künstlern wie Francesco Goya und Arnold Böcklin, aber auch von Henri de Tolouse Lautrec, James Abbott McNeil Whistler, Max Klinger und Odilon Redon anschauen. Čiurlionis hat in der polnischen Metropole auch viele Werke von Künstlern des Jungen Polen gesehen. In der Zachęta richtete die Warschauer Kunsthochschule eine Ausstellung von Werken ihrer Studenten aus, bei der Arbeiten von Čiurlionis das Interesse von mehreren Käufern weckten. Der junge Künstler besuchte auch die Salons von Stabrowski, Ruszczyc und anderen, die durch bereits weithin bekannte Literaten des Jungen Polen auflebten, darunter Stanisław Przybyszewski und Tadeusz Miciński, aber auch durch Vorlesungen und Diskussionen von Redakteuren und Literaturkritikern wie Zenon Przesmicki und Artur Górski. Dies half Čiurlionis sich in der bedeutendsten zeitgenössischen Lektüre zu orientieren.
Außerdem versammelten sich die jungen Kunststudenten gelegentlich in weniger formellen Kreisen – bei Čiurlionis und anderen Freunden. Auf einem Foto ist eine informelle Zusammenkunft von Kollegen der Warschauer Kunsthochschule Ende des Jahres 1904 zu sehen. Čiurlionis‘ Kommilitone Henryk Hayden, der diese Fotografie viele Jahre später einem Litauer geschenkt hat, bemerkte über sie: „Sehen Sie diesen Flügel? Auf ihm haben Čiurlionis und Morawski häufig – und auch an jenem Abend – vierhändig Bach und Mozart gespielt.“
Im Sommer richtete die Warschauer Kunsthochschule Exkursionen für Freilichtmalerei aus. Das erste Malpraktikum en plein air fand im Juni und Juli 1904 statt. Čiurlionis fuhr zusammen mit über dreißig Kollegen nach Arkadien. Was war das für ein Ort? Arkadien – polnisch: Arkadia – ist der Name eines Parks, der zum Schloss Nieborów der Fürsten Radziwiłł in der Nähe von Łódź gehörte. Er war am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von Helena Radziwiłłowa (Elena Radvilienė), der letzten Woiwodin von Vilnius, angelegt worden. Zu der Zeit, als Čiurlionis und die anderen Künstler dort eintrafen, waren einige Gebäude des Parks bereits nicht mehr erhalten und einige verfallen. Doch auf der Wasseroberfläche des Sees spiegelte sich noch immer würdevoll der sogenannte „Tempel der Diana“, noch immer lag, im Schatten der Bäume verborgen, neben der dunklen „Grotte der Sibylle“ das „Gotische Häuschen“ und standen der „Tempel des Hohepriesters“ und andere Gebäude. Čiurlionis richtete sich zusammen mit Eugeniusz Morawski und Jan Brzeziński auf der „Insel der Pappeln“ ein. Gemalt wurde mit kleinen Pausen von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Sonntags begab man sich gemeinsam auf Exkursionen. Außerdem fanden literarische Lesungen, darunter der Zeitschrift „Chimera“ [Chimäre], statt.
Čiurlionis setzte die Orgel im „Tempel der Diana“ instand und begann zusammen mit Morawski Konzerte auszurichten, nicht selten in Begleitung von Vokalisten. An einem Abend fand ein Maskenball statt – es war ein besonderes Ereignis: Die Künstler trugen Kostüme, die Visionen der Vergangenheit darstellten – „die Schatten der Toten“. So erschien Elena Radvilienė [Helena Radziwiłłowa], die Stifterin von Arkadia, in Begleitung des Schriftstellers, Dichters und vermeintlichen Historikers Julianas Ursinas Niemcewicz. Diese Rolle hatte Čiurlionis übernommen, der ein Pergament mit der Aufschrift „Chronos nimmt alles“. Morawski spielte das grüne, sumpfige Wasser. Im Morgengrauen wurde die Tanzmusik, die die ganze Nacht lang gespielt hatte, von Orgelklängen aus dem „Tempel der Diana“ verdrängt – es waren Čiurlionis und Morawski, die die aufgehende Sonne begrüßten! Mehrere Teilnehmer konnten sich noch bis ins hohe Alter lebhaft an die besondere Atmosphäre dieses Abends und die gesamte Reise zur Freilichtmalerei erinnern. Auf dem Foto sind die Teilnehmer auf der Treppe des erwähnten Tempels zu sehen, die von der dekorativen Skulptur einer Sphinx geschmückt wird. Zusammen mit seinen Kollegen von der Warschauer Kunsthochschule nahm Čiurlionis auch an einer Exkursion zur Freilichtmalerei in Istebna in Schlesien teil. Aber er hatte auch andere Gelegenheiten zu verreisen.
Während des Studiums in Warschau lernte Čiurlionis die gastfreundliche und liebenswürdige Familie seines Kommilitonen Bronisław Wolman kennen. Bald war er eng mit den Wolmans befreundet und wurde zusammen mit anderen Studienfreunden in den Salon in ihrem Hause eingeladen, wo Diskussionen zu literarischen und philosophischen Themen stattfanden und musiziert wurde.
So hielt hier auch der Philosoph Adam Mahrburg eine Vorlesungsreihe, der Jahre zuvor in Leipzig Kurse von Wilhelm Wundt besucht hatte. Čiurlionis war bei den Wolmans häufiger zu Gast als seine Kommilitonen: Er kam öfter zum Mittagessen und erteilte außerdem der Schwester von Bronisław, Halina Wolman, regelmäßig Musikunterricht, für die er bald Sympathie hegte und der er später drei seiner Präludien sowie die poetischen „Briefe an Devdurakėlis“ gewidmet hat.
Die Mutter der jungen Wolmans, auch sie trug den Namen Bronisława, war eine echte Kunst-Enthusiastin und eine außerordentlich intelligente Frau. Sie wurde bald zu einer konsequenten Unterstützerin und Anhängerin des Talents von Čiurlionis. Und sie war es auch, die als Erste eine sehr positive Resenzion des Kritikers Nikolai Breschko-Breschkowski in der Presse der russischen Hauptstadt über die Arbeiten von Čiurlionis in einer Ausstellung der Warschauer Kunsthochschule in Sankt Petersburg entdeckte. Darin wurde Čiurlionis als einziger Teilnehmer dieser Gruppenausstellung als ein Künstler von individuellem Profil herausgestellt. Daher erwarb Frau Wolman umgehend Čiurlionis‘ Zyklus „Die Erschaffung der Welt“, außerdem schenkte sie ihm ein zu jener Zeit unter Intellektuellen außerordentlich populäres Buch, unterstützte seine Studienreisen und lud ihn dazu ein, im Sommer an den Ausfahrten ihrer Familie teilzunehmen. So ist es kein Zufall, dass Čiurlionis ihr sein Gemälde „Freundschaft“ [„Bičiulystė“] geschenkt und ihr sein symphonisches Poem „Das Meer“ gewidmet hat. Bronisława Wolman brachte überdies anlässlich ihres Besuchs der Ersten Litauischen Kunstausstellung eine Unterredung mit dem Bischof über die Entlassung des als Organist tätigen Vaters von Čiurlionis zuwege. An Feiertagen schickte sie persönliche Grüße an die Angehörigen des Künstlers. In einem Brief an seinen Bruder bekannte Konstantinas Čiurlionis: „Schade, dass du Frau Wolman nicht kennst. Sie ist die einzige wunderbare Frau von allen, die ich kenne.“
Zusammen mit der Familie Wolman besuchte der Künstler den im Karpatenvorland gelegenen, damals zu Österreich gehörenden, populären galizischen Kurort Krynica sowie (gemeinsam mit seinem Freund Eugeniusz Morawski) den Kaukasus am Schwarzen Meer. Vor der Abreise nach Anapa im Sommer 1905 besaß Čiurlionis bereits einen eigenen Fotoapparat der Firma Kodak. Von Juni bis August genoss er die Gebirgslandschaften, er fotografierte und er malte. In einem Brief teilte er seinem Bruder Povilas seine tiefen, nachhaltigen Eindrücke von dieser Reise mit, die zu symbolischen Bildern seines Schaffens werden sollten: „Die Ufer sind felsig, hoch und stellenweise unzugänglich, an anderen Stellen kann man den Wellen kaum entkommen, und von einigen Bergen aus ist fast die Hälfte des Meeres zu sehen … Ich habe Berge gesehen, deren Köpfe von Wolken gestreichelt wurden, ich habe auch gewaltige verschneite Gipfel gesehen, die ihre glitzernden Kronen hoch über den Wolken hielten … Ich habe aus 140 km Entfernung den Elbrus gesehen, er glich einer riesigen Schneewolke mit weißen Bergketten im Vordergrund. Ich habe die Darialschlucht im Sonnenuntergang gesehen, zwischen wilden, graugrünen und rötlichen fantastischen Felsen.“ Ein Großteil der Fotografien in dem Anapa-Album wurde von Čiurlionis aufgenommen. Die häufigsten Motive sind das Meer, Segelschiffe, steile Küstenfelsen …
Eine Reise durch die Galerien, Museen und Ausstellungen von Mitteleuropa (keine Bildunterschrift)
Čiurlionis hatte von Bronisława Wolman ein Geldgeschenk erhalten und bereitete sich im Herbst 1906 auf eine Reise in die Städte von Mitteleuropa vor – nach Prag, Dresden, Nürnberg, München und Wien. Auf dieser Reise besuchte er intensiv Kunstausstellungen in fast 20 Galerien und Museen, in einer Vielzahl von Kirchen sowie in Galerien der schönen und angewandten Künste. Seiner Freundin und Mäzenin schrieb er aus München: „Ich habe zwei Pinakotheken, den Glaspalast, eine Internationale Kunstausstellung, die Glyptothek und eine französische Kunstausstellung gesehen.“ Daneben hob er am meisten seine Eindrücke von Dresden, Nürnberg und Prag hervor. Von den alten Malern erwähnte er insbesondere Raffael, Sandro Botticelli, Albrecht Dürer, Hans Holbein, Anthonis Van Dyck, Peterį Paul Rubens, Tizian, Rembrandt, Bartolomé Murillo, Diego Velázquez, und von den moderneren ‒ Arnold Böcklin, Franz von Stuck, Max Klinger, Ferdinand Hodlerį, Pierre Puvis de Chavannes. Den französischen Impressionisten und Postimpressionisten schenkte er keine besondere Beachtung.
Diese Reise hatte eine gewaltige Bedeutung für die überraschend innovativen Experimente von Čiurlionis im Bereich der darstellenden Kunst: für das Kolorit und die Maltechnik seiner Gemälde, für die eigenwillige Ästhetik der harmonischen Formen und für den kompositorischen Minimalismus – die Reduktion des Bilds fast bis zur Abstraktion. Dies ist am besten in seinen Gemäldezyklen „Winter“, „Sommer“ und „Stille“ sowie in der ein Jahr später in Angriff genommenen Verwirklichung seiner Visionen der Gemäldesonaten zu sehen.
Nachdem im Herbst 1905 in Warschau ein litauischer Verein für gegenseitige Hilfe gegründet worden war, nahm Čiurlionis für soziale Zwecke die Arbeit mit dem Chor des Vereins auf. Bereits nach einem halben Jahr konnte er mit den Sängern auftreten.
Die Vorgeschichte seiner Ankunft
Vincas Palukaitis, der Gründer des litauischen Hilfsvereins, hatte Čiurlionis nicht nur darum gebeten, den Chor zu leiten, sondern auch litauische Volkslieder für ein in den Volksschulen nutzbares Liederbuch mit dem Titel Vieversėlis [Die kleine Lerche] zu bearbeiten. Bereits im Januar 1906 teilte Čiurlionis seinem Bruder Povilas in einem Brief mit, dass er nicht nur die Absicht habe, das Repertoire des Chors zu bereichern, sondern auch eine Oper zu verfassen: „Hast du von der litauischen Bewegung gehört? Ich bin dazu bereit, alle meine bisherigen und zukünftigen Werke Litauen zu widmen. Wir lernen die litauische Sprache, und ich bereite mich darauf vor, eine litauische Oper zu schreiben.“ Im Frühling desselben Jahres wurden Čiurlionis‘ Werke in einer Ausstellung von Kunsthochschulen Russlands gezeigt und von den Zeitungen der Hauptstadt als unter allen Vertretern der Warschauer Kunsthochschule herausragend dargestellt. Ein Kritiker der Ausstellung bezeichnete ihn als hoffnungsvollen litauischen Künstler, worüber sich die Angehörigen seines Chors in Warschau sehr gefreut haben. Vincas Palukaitis stellte Čiurlionis zum ersten Mal in der litauischen Presse vor. Am Ende dieses Jahres, 1906, nahm Čiurlionis mit seinen Gemälden an der Ersten Litauischen Kunstausstellung teil.
Die Übersiedelung
Als die revolutionären Unruhen einsetzten, wurde das Leben in Warschau für Čiurlionis immer unsicherer, umso mehr als seine engsten Freunde in das Visier der Polizei gerieten. Den Sommer 1907 verbrachte er in Druskininkai, in einiger Entfernung von der Polizei, und im Herbst nahm er an der Gründung des Litauischen Kunstvereins teil: „Ich bin in Vilnius gewesen, […] bei der Eröffnung des Vereins. Dieses Mal hat es mir in Vilnius sehr gefallen. Die Stadt ist zwar sehr zurückgeblieben, aber die Menschen hier sind viel sympathischer als in Warschau. Ich habe einige Menschen von hoher Kultur kennengelernt und die Zeit sehr angenehm verbracht. Auch die erste Sitzung des Vereins war recht interessant […], aber das Beste ereignete sich, als die Leitung durch Abstimmung gewählt wurde. Ich habe alle Stimmen bekommen, und das hat mich sogar berührt, weil ich es nicht erwartet hatte. Am Schluss der Sitzung erhielt ich den Auftrag, noch in diesem Jahr mit meinen eigenen Händen in Vilnius eine Ausstellung vorzubereiten, deren Eröffnung am 23. Dezember stattfinden soll. Žmuidzinavičius reist nach Paris ab, also werde ich mich um alles allein kümmern müssen. Es wird viel Arbeit! – Furchtbar!“ In einem Brief an seine Förderin Bronisława Wolman gelangt er nach einer Erörterung von Für und Wider zu der Schlussfolgerung: „Meine Übersiedelung ist unausweichlich.“
Die Tätigkeit in Vilnius
Zunächst suchte Čiurlionis Schüler zum Unterrichten auf privatem Weg, über Bekannte, aber Ende 1907 und nach der Jahreswende begann er bereits Anzeigen in der Zeitung zu veröffentlichen. In einer der Anzeigen ist zu lesen: „K. Čiurlionis, Absolvent des Warschauer sowie des im Ausland befindlichen Leipziger Konservatoriums, ist in Vilnius niedergelassen und erteilt Unterricht im Klavierspiel sowie in Musiktheorie. Seine Adresse: Andrejewstraße 11, Whg 6.“ Allem Anschein nach, hatte Čiurlionis nur wenige Schüler. Einer von ihnen berichtete, wie sensibel er für die Mittellosen gewesen ist – für sie hat er sein Honorar gekürzt, und wenn sie sich kein Lehrbuch leisten konnten, dann schrieb er ganze Abende lang selbst mit der Hand Harmonie-Lektionen ab. Daher kann er nicht besonders viel verdient haben. Čiurlionis hat sich auch nach Verdienstmöglichkeiten an der Musikschule umgesehen, jedoch wurde diese Einrichtung von Zenonas Jakubowskis geleitet, der dem Musiker zu arrogant erschien: Er verlangte ein Hochschuldiplom. Čiurlionis, der derlei Dokumenten keine Bedeutung beimaß, erwiderte ein wenig unhöflich, er bewahre sein Abschlusszeugnis unter dem Bett auf. Damit waren seine Bemühungen um eine Anstellung in dieser Einrichtung beendet.
Die vermutlich regelmäßigsten Einkünfte sollte dem Musiker die Arbeit mit dem Chor „Vilniuser kanklės“ sichern. [„Kanklės“ ist ein der Zither ähnliches Saiteninstrument, charakteristisch für die litauische Volksmusik.] Mit den Mitgliedern dieses Chors beabsichtigte er, vier Mal pro Woche zu arbeiten, doch wenn der Unterricht ausfiel, zum Beispiel im Krankheitsfall, erhielt Čiurlionis kein Honorar. „Mit dem Chor haben sich Bande der Sympathie entwickelt
– ich unterrichte dort Musiktheorie und schreibe den Sängern laufend Gesangsübungen für zwei oder drei Stimmen auf, die manchmal sehr gut klingen, was eine gewisse Befriedigung hervorruft. Aber von alldem abgesehen, ist die Arbeit schwer – nur einige wenige haben Talent und Stimme, der Rest ist ein unsäglicher Haufen, ohne Gehör, ohne Stimme und ohne Verstand. Und von diesem [Haufen] verlangt Herr Vileišis ein Chorkonzert (seiner Meinung nach ist es bereits an der Zeit, dass der Chor etwas singt – dieser Idiot!).“
In dem Zimmerchen, dessen kleines Fenster nach Osten lag, konnte Čiurlionis in den dunklen Wintermonaten fast nicht malen, also dachte er sich Vorhaben in der angewandten Kunst aus: Ausstellungsplakate, Kataloge, Einbände für Bücher, Vignetten und andere kleinere grafische Arbeiten. Er verfasste Artikel. Oft saß er am Flügel – und bereitete sich auf seine Arbeit als Pädagoge oder Chorleiter vor, oder er probte das Programm eines Konzerts. Čiurlionis trat in Vilnius nicht nur als Konzertmeister sondern auch als Solist in Erscheinung – er hat in der Öffentlichkeit Werke von Ludwig van Beethoven, Frederic Chopin, Stanisław Moniuszko und anderen Komponisten gespielt. Von seinen eigenen Kompositionen präsentierte er dem Vilniuser Publikum einige Präludien sowie eine Klavieradaptation der Orgelpartitur der Kantate „De Profundis“.
Außerdem hat Čiurlionis an diesem Instrument viel Zeit mit dem Improvisieren und Komponieren seiner Werke verbracht: In Vilnius hat er den stilistisch innovativen Landschaftszyklus „Die See“ [„Marės“] für Klavier verfasst, der später in Sankt Petersburg bei einem Konzert in der Veranstaltungsreihe „Abende der zeitgenössischen Musik“ aufgeführt wurde. Außerdem hat er in der Vilniuser Zeit die Planung einer Oper mit dem Titel „Jūratė“ begonnen – diese Idee sollte er bei seinem zeitweiligen Aufenthalt in Sankt Petersburg weiterzuentwickeln versuchen.
Überdies nahm der Künstler auch an Versammlungen zur litauischen und internationalen Kunst teil. Er war nicht nur Mitglied des Litauischen sowie des Vilniuser Kunstvereins – auch die Litauische Wissenschaftliche Gesellschaft bat ihn im Jahre 1909, an der Arbeit der Kommission für die Sammlung von litauischen Volksliedern teilzunehmen. Zudem beauftragte ihn der im selben Jahr gegründete Litauische Kulturverein „Ruta“ mit der Bemalung des Bühnenvorhangs, der bis in die Gegenwart erhalten ist. Auch Sofia Kymantaitė-Čiurlionienė, die Verlobte und spätere Ehefrau des Künstlers, die im Herbst 1908 ebenfalls dem Litauischen Kunstverein beitrat, nahm an der Arbeit der Litauischen wissenschaftlichen Gesellschaft teil. Sie berichtete, dass die Übersiedelung nach Vilnius für Čiurlionis „so etwas wie ein ein kategorischer Imperativ, war, hier im Bereich der Kunst tätig zu sein, die Menschen hier zu erwecken, aufzurichten und ihnen zu zeigen, dass sie auch selbst schöpferisch arbeiten können.“
Čiurlionis beteiligte sich gleichfalls an der damals unter den Litauern aktuellen Debatte über ein Litauisches Volkshaus in Vilnius, die um die Frage kreiste, ob es ein Neubau oder ein bereits existierendes, käuflich zu erwerbendes Gebäude sein sollte. In der Diskussion der auf Dr. Jonas Basanavičius zurückgehenden Idee eines Litauischen Volkshauses äußerten sich die Vertreter von zahlreichen, ganz unterschiedlichen litauischen Vereinen, unter denen die Angehörigen des Litauischen Kunstvereins zu den aktivsten gehörten. Čiurlionis sprach sich für das ambitionierte Projekt eines neuen Gebäudes aus. Es sollte für Konzerte, ein Museum, Ausstellungen, Versammlungsräume, einen Club, eine Bibliothek mit Lesesaal, Proberäume und anderes geeignet sein. Außerdem versprach Čiurlionis, diesem Nationalmuseum seine Werke zu schenken. Nach dem Tod des Künstlers und Komponisten kauften die Litauer mit gesammelten Spendengeldern ein Grundstück am Vilniuser Pamėnkalnis [einem Hügel im Stadtzentrum]. Jedoch wurde nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Summe des Aufbaufonds fast vollkommen entwertet und das Projekt nicht in Angriff genommen.
Die Vorbereitung auf die Zweite Litauische Kunstausstellung
Der größte gesellschaftliche Auftrag wurde Čiurlionis mit der Vorbereitung der Zweiten Litauischen Kunstausstellung zuteil. „Alles, was mit der Ausstellung zusammenhing, musste ich mit meinen eigenen Händen erledigen“, schrieb er. „Die Briefe – und zwar sehr viele, die Artikel und die Eintrittskarten, die Kataloge und die Plakate, die Druckerei und das Warenlager, die Polizei und der Gouverneur. Mit meinen eigenen Händen habe ich die Kisten ausgepackt und selbst schwere Lasten in die zweite Etage getragen, unzählige Male bin ich in der Werkstatt für die Bilderrahmen gewesen. / Das Hängen der Bilder gehörte zu den schwersten Aufgaben. Vier Räume, und in jedem andere Tapeten an den Wänden, und das Licht unweigerlich von der Seite, dazu die riesigen Gemälde von Stabrauskas. Das war schon etwas! Kaum schienen alles gehängt, da sehe ich – das ist schlecht. Wieder muss alles auseinandergenommen werden, und das ohne Ende. / Trotzdem war alles zur verabredeten Zeit fertig, das heißt am Donnerstag dem 28. Februar um ein Uhr nachmittags. / Anstelle von zeremoniellen Ansprachen hingen wir genau um ein Uhr eine riesige blaue Fahne heraus und öffneten die Tür […]. / Es war ein ‚Spektakel‘. Die meisten fühlten sich wie Sardinen in einer Konservenbüchse, es gab Leute, die hartnäckig Erklärungen verlangten, und es gab Menschen, die sich beim Anblick meiner Gemälde ausgeschüttet haben vor Lachen, und nur einige wenige wohl haben etwas gespürt und verstanden. / Summa summarum kam die öffentliche Meinung zu dem Schluss, dass die Ausstellung trotz alledem schöner ist als die im vergangenen Jahr, nur leider kleiner.“ Die Ausstellung fand bis zum 28. April (nach dem neuen Kalender – bis zum 11. Mai) statt. Čiurlionis hat dort etwa sechzig seiner Arbeiten präsentiert, zu den herausragendsten von ihnen zählen, unter anderem, die „Sonnensonate“ und die „Frühlingssonate“, der Zyklus „Winter“, „Freundschaft“, „Vergangenheit“, „Nachricht“, die Triptycha „Sommer“, „Mein Weg“ und „Märchen“.
Im Spätsommer 1908 wurde Čiurlionis neben dem Vorsitzenden Antanas Žmuidzinavičius, dem Direktor der Warschauer Kunsthochschule Kazimierz Stabrowski und dem Künstler und Kunstsammler Tadas Daugirdas zum Ehrenmitglied des Litauischen Kunstvereins gewählt.
Bis zum Ersten Weltkrieg hat der Litauische Kunstverein acht litauische Kunstausstellungen mit mehr als 10.000 Besuchern ausgerichtet. Im Frühling und Frühsommer 1911 organisierten die Mitstreiter von Čiurlionis posthum eine Ausstellung seiner Werke in Vilnius und Kaunas und halfen auch bei der Ausrichtung von posthumen Ausstellungen des Künstlers in Moskau und Sankt Petersburg. Auf Initiative der Kollegen des „Čiurlionis-Kreises“ fand 1913 und 1914 in Vilnius eine ständige Ausstellung von Čiurlionis‘ Werken statt. Als sich im Ersten Weltkrieg die Front näherte, verlor Vilnius die Čiurlionis-Sammlung – sie wurde in aller Eile nach Moskau ausgelagert und später nach Kaunas gebracht, das nach dem Ersten Weltkrieg als Hauptstadt der unabhängigen Republik Litauen fungiert hat. Die gesamte Kollektion befindet sich heute im Nationalen Kunstmuseum Čiurlionis in Kaunas.
In Vilnius begegnete Čiurlionis einem Menschen, der ihm bald lebenslang am nächsten stehen würde. Es war Sofija Kymantaitė, die genau zu jener Zeit, im Herbst 1907, nach dem Studium an der Krakauer Jagiellonen- Universität sowie dem Abschluss der höheren Kurse für Frauen, in Vilnius angekommen war, um in der Redaktion der Zeitung „Viltis“ zu arbeiten, und sich beim Litauischen Frauenkongress sowie in dem Verein Žiburėlis [deutsch: Lichtlein] engagierte.
Dieser Verein bereitete eine Gedenkveranstaltung für Vincas Kudirka [einen der bedeutendsten Gründer der litauischen Nationalbewegung] vor, weshalb Sofija einen Brief nach Druskininkai an Čiurlionis schickte, in dem sie ihn bat, an diesem Abend zu musizieren. Bald darauf traf Čiurlionis in Vilnius ein. Da Sofija in Erfahrung gebracht hatte, Čiurlionis würde zur Generalprobe eines litauischen Theaterstücks („Blinda, svieto lygintojas“ [Blinda, der Gleichmacher der Welt] von Gabrielius Landsbergis-Žemkalnis ) erscheinen, ging sie zusammen mit [ihrer Mitstreiterin ] Felicija Bortkevičienė dort hin, um die Einzelheiten der Kudirka-Gedenkveranstaltung und des Konzerts mit Čiurlionis zu besprechen. Sofija erzählte später, als sie Konstantinas zum ersten Mal erblickt habe, sei ihr „Herz plötzlich wie von einer Welle geflutet worden. Ich wusste absolut alles. Das ist Er, sagte ich mir und wartete wie in einem Nebel darauf, dass Bortkevičienė ihn zu mir bringt.“ Čiurlionis willigte gern ein, an der Veranstaltung teilzunehmen, die eine Woche später stattfinden sollte. Sofijas Vortrag über Kudirka, der von romantischem Pathos durchdrungen war, machte einen starken Eindruck auf das Publikum. Nach der Pause spielte Čiurlionis, setzte sich danach neben die junge Frau von zweiundzwanzig Jahren und sagte: „Sie haben so schön gesprochen. Ich habe beim Zuhören beschlossen, dass Sie mir die litauische Sprache beibringen werden.“ Sofija widersprach nicht.
Schauen Sie sich das in einem Metallrahmen auf dem Regal stehende Foto an und vergleichen Sie es mit Čiurlionis‘ Beschreibung von Sofija, kurz nachdem er sie kennengelernt hatte: „Fräulein Kymantaitė, sie ist sehr schön […]. Sie hat in Krakau die höheren Baraniecki-Kurse absolviert, arbeitet in der Redaktion von „Viltis“ und spricht hervorragend Litauisch. Sie möchte mir keinen Unterricht geben, aber das macht nichts.“ Die beiden trafen sich dreimal in der Woche in dem von Sofija gemieteten Zimmer. Sie lernten nicht mit dem Lehrbuch von Jonas Jablonskis und den Volksliedsammlungen von Antanas Juška und Liudvikas Rėza nur Litauisch, sondern sie unterhielten sich auch über Literatur, Musik und Kunst. Bald waren sie eng miteinander befreundet, und die junge Frau schrieb Artikel für die Presse, in denen sie darum warb, sich dem von Čiurlionis geleiteten Chor anzuschließen.
Kurz nach der Eröffnung der Zweiten Litauischen Kunstausstellung lud Čiurlionis sie [zum ersten Mal] zu sich in dieses Zimmer ein. Hören wir, wie Sofija sich an diesen Besuch erinnert: „Am Fenster stand ein Kanapee, davor ein runder Tisch und rechts an der Wand – ein Flügel. Ich setzte mich auf das Kanapee und schloss die Augen. Konstantinas improvisierte. Es verging einige Zeit – eine halbe Stunde oder eine Stunde, ich weiß es nicht. Die Musik verstummte, und die Abenddämmerung erfüllte das Zimmer – und in diesem Dämmerlicht hatte es für mich den Anschein, als würden die Töne der Musik immer weiter wogen. Ich stand auf – ein unsagbares Glücksgefühl und unendliche Traurigkeit zugleich raubten mir geradezu den Atem. Ich bewegte mich von der Stelle und als ich hinter ihm stand, begann ich seinen in den Nacken gelegten Kopf zu streicheln, ich beugte mich vor und küsste sanft seine hohe Stirn. Er drückte meine Hände an die Lippen – ohne Worte. Die Grenze, die weder der eine noch der andere von uns beiden überschreiten wollte.“
Konstantinas und Sofija entwickelten rasch gemeinsame schöpferische Ideen: Lieder des Komponisten für seinen Chor mit Motiven der Lyrik seiner Verlobten und eine von beiden gemeinsam verfasste Serie von Aufsätzen in „Lietuva“; daneben hielten beide weiterhin Vorträge und musizierten bei Kulturveranstaltungen.
Durch die Freundschaft mit Sofija, dem Mädchen mit den „Meeresaugen“, bot sich Konstantinas auch die Gelegenheit, noch einmal die Schauplätze seiner Kindheit und Jugend in Plungė zu besuchen und einige Sommermonate an der Ostsee in Palanga zu verbringen. Diese Erlebnisse haben seine schöpferischen Kräfte stark intensiviert: Am Meer begann er einige seiner beeindruckendsten Zyklen zu malen – „Meeressonate“, „Präludium und Fuge“ und das Triptychon „Phantasie“. Am 1. Januar 1909 heirateten die Verlobten und fuhren nach Sankt Petersburg.
Čiurlionis wollte seine Werke in den Ausstellungen der Künstlerkreise „Welt der Kunst“ und „Salon“ zeigen. Die –wenngleich nicht einstimmige – Anerkennung dieser anspruchsvollen Reformer der Kunst konnte er recht schnell gewinnen – doch schritt seine Krankheit noch schneller voran. Čiurlionis‘ in den Jahren 1908 und 1909 in der damaligen russischen Hauptstadt verfassten Liebesbriefe an Sofija gehören heute zum Besten, was das litauische kulturelle Erbe in diesem Genre zu bieten hat. Diese Briefe vermitteln nicht nur einen guten Einblick in die biografischen Ereignissen, sondern auch in die außerordentlich empfindsame, von Sehnsucht nach Schönheit erfüllte Seele des Künstlers.
Nach seinem Umzug nach Vilnius schrieb Čiurlionis in einem Brief an Halina Wolman: „Ich möchte dir in groben Zügen mein hiesiges Leben beschreiben. Zuallererst erweist sich der Überfluss an Arbeit, den ich mir hier erhofft hatte, als bloßer Traum. Ich leide darunter, dass ich seit meiner Ankunft keine Arbeit habe.
Ich habe nur eine Unterrichtsstunde, und auch die nur einmal in der Woche. Den Chor, ehrlich gesagt, habe ich zwar vor Kurzem viermal in der Woche zu leiten angefangen, aber deshalb habe ich es auch fertig gebracht, schon dreimal die Grippe zu bekommen, und wenn es so weitergeht, dann werde ich auch mit dem Chor nichts verdienen.“
Als der Chorleiter noch schwerer erkrankte, besuchte ihn der Arzt Andrius Domaševičius. Er war ein Aristokrat mit linken Ansichten, der sich kurz nach seiner Rückkehr nach Vilnius den Aktivitäten der sogenannten „Zwölf Apostel von Vilnius“ anschloss. Er gründete die Litauische Sozialdemokratische Partei und half bei der Organisation des Großen Sejm von Vilnius, zog sich aber zu der Zeit, als er Čiurlionis kennenlernte, aus der Parteiführung zurück. Er besaß eine private Poliklinik sowie ein Krankenhaus und machte außerdem Visiten in anderen medizinischen Einrichtungen, er interessierte sich für Musik und schrieb für die Presse. „Dr. Domaševičius, eine sehr intelligente Persönlichkeit, leidenschaftlich verliebt in klassische Musik, brünett, himmelblaue Augen, hat sich sehr sorgfältig um mich gekümmert, als ich krank war“, schilderte Čiurlionis. Eine Zeit lang konnte der Musiker nicht einmal komponieren – den Flügel erwarb er erst im neuen Jahr. Stattdessen zeichnete er mit wohlwollenden Worten die Porträts von Menschen, denen er hier begegnete.
Zuerst beschrieb er ein Paar, dessen Zuneigung ihm bei der Arbeitssuche in Vilnius half: Jonas und Ona Vileišis. Jonas war zu jener Zeit Vorsitzender des Vereins „Vilniaus kanklės“, und er war einer der Gründer des Litauischen Kunstvereins, dem auch Čiurlionis angehörte. Er schaffte es offenkundig nicht, seinen Verpflichtungen als gewählter Sekretär nachzukommen, weshalb Čiurlionis ihn in seinem Brief ein wenig karikierte: „Jonas Vileišis, [...] sympathisch, ein bisschen Aristokrat, ein bisschen Bourgeois, Mitglied aller existierender litauischer Vereine von Vilnius, offenbar nur um dazuzugehören […] Verliebt in seine Frau.“ Sie war tatsächlich zum Verlieben: Nachdem Jonas Vileišis dem schönen Mädchen Anna aus der aristokratischen Familie Kossakowski begegnet war, übernahm sie vollständig die nationalen Ideale ihres Mannes und begann, Litauisch nicht nur zu sprechen, sondern auch zu schreiben. Čiurlionis lehnte es nicht ab, vierhändig mit ihr zu spielen, weil sie aufrichtig, warmherzig und immer dazu bereit war, den Gast zu beköstigen. Das Zuhause dieser jungen Familie ersetzte ihm ein wenig die Gastfreundschaft der in Warschau zurückgebliebenen Wolmans.
In der Aufzählung seiner neuen Bekannten erwähnte Čiurlionis auch den Bruder von Jonas Vileišis, Petras, den großzügigsten Förderer der litauischen Nationalbewegung. Er hatte nach seiner Ausbildung zum Bauingenieur für Eisenbahnbrücken in der russischen Provinz als Bauunternehmer für Staudämme gearbeitet und beträchtliches Kapital zusammengespart, das er nach der Rückkehr nach Litauen nicht nur für den Aufbau einer Firma nutzte, sondern auch für die Gründung und Unterhaltung der ersten litauischen Tageszeitung, Vilniaus žinios [Vilniuser Nachrichten], einer litauischen Druckerei sowie eines Buchgeschäfts. Eine ganze Reihe führender Persönlichkeiten der litauischen Nationalbewegung konnten dank der von Petras Vileišis geschaffenen Arbeitsplätze nach Vilnius ziehen, darunter sozial und politisch engagierte Geisteswissenschaftler wie Jonas Basanavičius, Jonas Jablonskis und die Brüder Mykolas und Vaclovas Biržiška, aber auch bedeutende Literaten wie Julija Žemaitė, Juozas Tumas-Vaižgantas und Gabrielė Petkevičaitė-Bitė. Vier Jahre lang war Petras Vileišis Abgeordneter im Vilniuser Stadtparlament, und 1905 organisierte er den Großen Sejm von Vilnius. In seinem Palais fand die Erste Litauische Kunstausstellung statt, in der die Litauer zum ersten Mal die Gemälde von Čiurlionis sahen.
An einer Wand in diesem Raum sehen Sie Fotografien von dieser Ersten Litauischen Kunstausstellung im Palais Vileišis. „Petras Vileišis, ein wirklich sympathischer alter Mann, einfach und gutherzig“, so charakterisierte ihn Čiurlionis und fügte hinzu: „Vor einigen Jahren hat er etwa 500.000 besessen, und jetzt sind ihm nur noch 50.000 geblieben. Er hat alles für die Menschen und verschiedene Zwecke der Nationalbewegung ausgegeben.“ Tatsächlich waren die finanziellen Mittel von Vileišis sogar noch dramatischer zusammengeschmolzen, was ihn dazu veranlasste, bald wieder in die russische Provinz zu fahren, um Geld zu verdienen. In einem Brief an Čiurlionis bekannte er: „Wir sympathisieren miteinander.“
Beim Hängen seiner Gemälde für die erste Ausstellung schloss Čiurlionis auch nähere Bekanntschaft mit dem siebenundzwanzigjährigen Künstler Petras Rimša, der als einer der ersten die litauischen Künstler in der Presse dazu anregte, über eine gemeinsame Ausstellung ihrer Arbeiten nachzudenken. Rimša, vom Lande stammend und zunächst gegenüber dem älteren Kollegen etwas schüchtern, freundete sich bald eng mit Čiurlionis an und wurde einer seiner tatkräftigsten Helfer bei der Ausrichtung der Zweiten Litauischen Kunstausstellung. Später hat sich Rimša gern an die Stimmung zurück erinnert, die sich unter den Künstlern beim Hängen der Gemälde für die Erste Litauische Kunstausstellung verbreitete: „Natürlich, die Seele der guten Stimmung in unserem Kreis war Antanas Žmuidzinavičius. Aber auch Čiurlionis mangelte es nicht an ihr. Und schließlich ist es ja auch Brauch, mit einem Lied zu arbeiten. Noch heute habe ich Čiurlionis und Žmuidzinavičius vor Augen, wie sie in den Ausstellungsräumen nach oben geklettert waren und ihre Bilder aufhingen. Und da strömte aus unseren jungen Brüsten ein wunderbares dzūkisches Volkslied: ‚Oi giria giria...‘ [O, Wald, Wald …] Wir sangen uns derart die Seelen aus dem Leib, dass manchmal sogar die Arbeit liegenblieb. Die Vorbereitung der Ausstellung hat uns Künstler zu einer Freundschaft zusammengeschweißt, wie es sie selten gibt …“
Der Landschaftsmaler Antanas Žmuidzinavičius, der in Warschau und Paris studiert hatte, wurde im Herbst 1907 Vorsitzender des neu gegründeten Litauischen Kunstvereins. Und er blieb es über den gesamten Zeitraum des Bestehens dieses Vereins. Als er sich 1908 zu weiteren Studien nach München sowie zu einer Spendensammlung für den Verein nach Amerika begab, vertrat Čiurlionis den Vorsitzenden in allen organisatorischen Belangen. Žmuidzinavičius erinnerte sich daran, wie Konstantinas zur Eröffnung der ersten Ausstellung mit einer ‚großen, zu einer breiten Kokarde gebundenen Krawatte‘ geschmückt erschienen war, und eine junge Dame, die seine seltsamen Gemälde erblickte, auf denen sich ‚das Unterirdische mit dem Himmel vermischte‘, es sich in den Kopf setzte, den Künstler selbst sehen zu wollen, der, ihrer Meinung nach vermutlich ‚weiß Gott, wie aussehen muss‘. Und der in der Nähe stehende Maler eilte heran, um ihr zu antworten: ‚Meine Dame, er ist wirklich furchtbar: Er sieht aus wie ein Drachen, der Jungfrauen verschlingt.‘ Žmuidzinavičius, ein Liebhaber von Konzerten, erwähnte noch lange Zeit später, welchen Eindruck auf ihn das Musizieren von Čiurlionis gemacht hat: „Wenn Čiurlionis gespielt hat, dann endete das Leben dieser Welt: Der Künstler stieg auf und nahm auch seine Zuhörer mit in andere, schönere Welten von Träumen und Fantasiegebilden.“
Doch Čiurlionis unterhielt, als er in Vilnius lebte, enge Verbindungen nicht nur mit Künstlern litauischer Herkunft. Zu seinen bedeutendsten Bekanntschaften zählte der mit ihm gleichaltrige Künstler Lew (Leib) Antokolski. Dieser hatte die Vilniuser Malereischule absolviert, an der Kaiserlichen Kunstakademie in Sankt Petersburg bei Ilja Repin studiert, eine Zeit lang in Paris gewohnt und leitete nun bereits seit fünf Jahren in Vilnius die Zeichenklassen an der Vilniuser Jüdischen Handwerksschule. Sie war vom Verein für Industrielle Kunst initiiert worden, der ihr ein Jahr zuvor den Namen des Onkels von Lew Antokolski – des berühmten Bildhauers Mark (Morduch) Antokolski – verliehen hatte. Auf Čiurlionis‘ Bilder war Lew Antokolski zum ersten Mal in der Ersten Litauischen Kunstausstellung aufmerksam geworden. Seine symbolistischen Arbeiten schienen ihm „von tiefem philosophischem Sinn erfüllt“ zu sein, während ihm die originelle Interpretation von musikalischen Themen vergleichbar mit einem „blendend strahlenden Meteor“ erschien. Später ist Čiurlionis Lew Antokolski hin und wieder zu organisatorischen Anlässen des Litauischen Kunstvereins begegnet. Antokolskis Bekanntschaft mit den Angehörigen von „Welt der Kunst“ in Sankt Petersburg waren für Čiurlionis sehr nützlich, als er professionelle Verbindungen in die russische Hauptstadt anknüpfte. Nach Čiurlionis‘ Tod erinnerte sich Antokolski daran, wie dieser die krummen Gassen von Vilnius gemocht hatte: „Ich kann mich noch an jenen Herbstabend erinnern, an dem ich ihn in seinem winzigen Zimmer in der Andrejewstraße besucht habe, in dem sich nichts außer einem Flügel, einem Haufen Notenblätter und an den Wänden aufgehängten getrockneten herbstlichen Zweigen befand. […] Er war dort allein mit seinen genialen Ideen, die Töne seiner Musik erstaunten durch ihre […] Traurigkeit…“ In diesem bescheidenen Raum wurden Gespräche nicht selten durch Musik fortgesetzt, die von Fingern auf der Tastatur des Lippenberg-Flügels zum Leben erweckt wurde.
Auch Iwan Trutnew hat Čiurlionis in seinem Zimmer besucht, ein Maler von religiösen und volkstümlichen Szenen sowie Porträts in der akademischen Tradition, der damals bereits ein alter Mann von über 80 Jahren war. Er hatte in Moskau studiert, die Metropolen Frankreichs, Deutschlands, Belgiens, der Niederlande und Italiens bereist, eine Zeit lang in Witebsk gearbeitet und leitete nun bereits seit vierzig Jahren die Vilniuser Malereischule. In Sankt Petersburg hatte er sich den Titel eines Mitglieds der Kunstakademie, eines Staatsrats sowie eines Wirklichen Staatsrats erworben. Tatsächlich zählte zu den Werken von Iwan Trutnew auch das Projekt zu einem Denkmal für den Reaktionär Michail Murawjow, doch es ist möglich, dass Čiurlionis davon nichts gewusst hat.
Ende 1908 ließ sich in Vilnius auch Ferdynand Ruszczyc nieder, der Čiurlionis an der Warschauer Kunsthochschule in Malerei unterrichtet und auf ihn einen gewissen Einfluss ausgeübt hatte. Die beiden Männer waren eigentlich Künstler derselben Generation: Ihre Geburtsdaten liegen nur fünf Jahre auseinander. Ruszczyc, der in Sankt Petersburg studiert und München, Berlin, Dresden, Paris und Wien bereist sowie ein Jahr an der Krakauer Kunstakademie gelehrt hatte, fühlte sich von der weniger prätentiösen Vilniuser Atmosphäre angezogen; außerdem hatte in dieser Stadt eine frühe Ausstellung seiner Werke stattgefunden. Das Haus in Užupis, in dem Ruszczyc wohnte, befand sich nicht weit von Čiurlionis‘ Zimmer. Die beiden Maler haben sich gelegentlich getroffen. Nach einem Besuch der Litauischen Kunstausstellung hat Ruszczyc einmal erwähnt, dass nur Čiurlionis‘ Arbeiten Aufmerksamkeit verdienen würden. Ihm gefielen das „Scherzo“ der Sonate sowie der Zyklus „Sternzeichen“, aber er merkte an, die Werke des Künstlers enthielten etwas zu viel Kabbalistik und zu wenig Malerei.
Nach dem Tod von Čiurlionis war Ruszczyc ein Sargträger und hielt eine Rede am Grab des Künstlers, den er mit wesentlichen Eindrücken von seiner Persönlichkeit würdigte: „… Wir verabschieden uns von einem Menschen von unbefleckter Lauterkeit, von einem Freund, der erhabene Ziele hatte, und wir werden seinen tragisch abgebrochenen Gesang tief im Gedächtnis behalten … Er ist fortgegangen in andere Welten, deren Träume ihn in seinem kurzen Leben begleitet haben, in jenes ferne Land, dass wir nicht kennen, von dem wir aber wissen, wir sind es und haben es und spüren es in uns. Dorthin hat Čiurlionis von unserem Ufer aus Brücken aus Farben und Klängen geschlagen. Für andere ist Čiurlionis ein Ausdruck dieser zweifachen Heimat gewesen, aus der ein Künstler und ein Mensch erwächst – der großen Heimat des Geistes, die, ungeachtet der Jahrhunderte und Nationen, die Seelen zu einer großen Gemeinschaft vereint. Und der anderen [Heimat] – des eigenen Erdbodens, an den ihr Sohn sich liebevoll schmiegt. Es gibt ein Gemälde von Čiurlionis, das wir alle gut kennen. Aus erwachendem Licht taucht ein Vogel auf, der mit breitem Flügelschlag an Gebirgsgipfeln vorüber in die Ferne davonfliegt. Es trägt den Titel ‚Nachricht‘. Als Träger einer solchen Nachricht ist Čiurlionis gekommen. Er war der Verkünder einer neuen jungen Kunst, in der er seine getrennte Spur hinterließ. Und seinem Land und seinen Landsleuten kündete er von der Schönheit des in ihnen erwachenden Frühlings. Und im Frühling ist er nun auch fortgegangen.“
Eine andere künstlerische Seele aus dem Umfeld des Vilniuser Kunstvereins war Stanisław Filibert Fleury. Ein Absolvent der Vilniuser Malereischule, hatte er heimlich das Handwerk des Fotografen in den Ateliers einiger bekannter Meister erlernt und beschlossen, sein eigenes Atelier zu eröffnen. Er fotografierte nicht nur gern Ansichten von Vilnius (und hat später als einer der Ersten in dieser Stadt stereoskopische Fotografien hergestellt), sondern hat auch Vilniuser Landschaften gemalt und Bücher illustriert. Als Čiurlionis nach Vilnius zog, arbeitete Fleury bereits seit über zehn Jahren in seinem Atelier in der Didžioji gatvė. Da es sich ganz in der Nähe des Zimmers von Čiurlionis befand, kam dieser eines Morgens im Juni 1908 zu seinem Kollegen, um sich fotografieren zu lassen. Seine Verlobte Sofija Kymantaitė erzählte, das Foto sei nach einer Nacht aufgenommen, die er mit ihr auf dem Gediminashügel verbracht hatte: „An jenem Morgen, er hatte kaum geschlafen, den Flügel transportiert und sich übermüdet bei der Heimkehr daran erinnert, dass er ‚Šaltinis ‘ ein Foto versprochen hatte. Er trat bei dem Fotografen ein, und es wurde dieses Foto aufgenommen, das alle kennen […] Doch das Foto hat etwas Lebloses an sich – da ist nichts von diesem hellen Ausdruck, nur dieses etwas graue Gesicht, und nichts von dem ständigen Leuchten in seinen Augen. / ‚Ich bin so müde gewesen, dass ich mich nicht einmal gekämmt habe‘, rechtfertigte er sich […] später.“ Dieses Foto können Sie in diesem Zimmer sehen – es hängt an der Wand.
Antanas Vileišis, der aktiv an der Tätigkeit des Großen Sejm und der Wissenschaftlichen Gesellschaft teilgenommen hatte, war auch Mitglied des Organisationskomitees der Ersten Litauischen Kunstausstellung. Da er fortschrittliche, linke Ansichten hatte, kümmerte sich der Arzt aufrichtig darum, Vereine für sozial schwache Landsleute zu gründen und arbeitete im Vilniuser Stadtparlament. Einen Teil der Chorproben leitete Čiurlionis in den Räumen des Vilniuser Litauischen Vereins für gegenseitige Hilfe, deren Vorsitzender Antanas Vileišis war.
Čiurlionis wurde in seinem Zimmer auch von dem dzūkischen Literaten Liudas Gira besucht, der Lyrik verfasste und mit vielen Periodika zusammenarbeitete. Der Komponist hatte ihn gebeten, aus dem Polnischen ins Litauische ein Lied zu übersetzen, für das er die Melodie geschrieben hatte. Seine musikalischen Improvisationen haben in dem vierundzwanzigjährigen jungen Mann einen ganzen Wirbel romantischer Bilder ausgelöst: „Seine Hände rissen wie Blitze die Akkorde aus der gesamten Klaviatur […]. Melodien in piano und forte wogten wie vom Wind geschüttelte dzūkische Kiefernwipfel.“ So schilderte Liudas Gira ein Werk, das, in seiner Erinnerung, der Komponist „Glocken“ genannt hat. Aus diesem Anlass hat sich der Komponist über die Bedeutung von Dissonanzen geäußert, die auch in den Sutartinės – litauischen Volksliedern [mit Wechselgesang] – vorkommen. Wahrscheinlich waren die beiden Männer am stärksten durch ihr Interesse an den Volksliedern und der Volkskunst verbunden, denn als Čiurlionis seine Sonaten zu malen begann, drückte Liudas Gira in der Presse sein Bedauern über diese, wie er meinte, vage Thematik aus und gab den Märchen von Čiurlionis den Vorzug.
Mehrmals hat Čiurlionis mit Kipras Petrauskas geprobt und konzertiert – dem vermutlich berühmtesten litauischen Opernsänger des 20. Jahrhunderts . Zu jener Zeit war Kipras Petrauskas noch Student in der Vokalklasse des Sankt Petersburger Konservatoriums und erlebte den Durchbruch beim litauischen Publikum mit der Rolle des Bruders der Birutė in der Premiere des Melodrams „Birutė“. Wir wissen nicht, ob Čiurlionis auch mit Mikas Petrauskas, dem Komponisten des Stücks bekannt war, das als erste litauische Oper bezeichnet wird, während hingegen als gesichert gilt, dass er dem Verfasser des Librettos, Gabrielius Landsbergis-Žemkalnis, tatsächlich begegnet ist.
In dem von Čiurlionis geleiteten Chor hat auch Marija Piaseckaitė-Šlapelienė gesungen, die in dem Melodram die Hauptrolle der Birutė gespielt hat. Die Proben fanden immer recht spät statt – nach der Tagesarbeit. Marija leitete zu dieser Zeit bereits seit über einem Jahr ein von ihr gegründetes Buchgeschäft und erzog zudem ihr erstgeborenes Töchterchen, weshalb sie sich später entschloss, ihre Karriere als Sängerin aufzugeben. Dennoch hat ihr der Chorgesang geholfen, ihre Interessen zu entwickeln. Čiurlionis hat sie nicht selten an dunklen Winterabenden bis zu ihrem Haus in der Sarazenenstraße begleitet.
Bei der Vorbereitung der Zweiten Litauischen Kunstausstellung standen Čiurlionis einige Helferinnen aus dem Kunstverein tatkräftig zur Seite – insbesondere Sofija Gimbutaitė und Marija Putvinskytė, zwei junge litauische Aristokratinnen, die in Paris ihr Stomatologiestudium absolviert hatten. Sofija Gimbutaitė war gemeinsam mit Čiurlionis im Vorstand des Litauischen Kunstvereins, kümmerte sich um die Buchhaltung der Organisation und wurde später ihre Sekretärin. Sie war fest davon überzeugt, dass eine notwendige Voraussetzung für das Überleben der Kultur eines Volkes die Verbreitung der Kunst und die Gründung eines Nationalmuseums sind und engagierte sich mit aller Kraft für die Verwirklichung dieses Ziels. Sofija hatte dem Kunstverein eine riesige Summe gespendet, was der Kunstverein mit einer lebenslangen Mitgliedschaft honoriert hat. Der Verein war unter ihrer Privatadresse in der Preobraschenski-Straße registriert. Dort trafen alle Briefe und Werke von Künstlern und Volkskünstlern ein, die an der Ausstellung teilnehmen wollten, von dort brachte Čiurlionis sie zum Rahmen und später in die für die Ausstellung angemieteten Räume. Sofija kümmerte sich nicht nur kostenlos um die Zähne von mittellosen Künstlern, sondern gestattete ihnen auch, in ihrem Arbeitszimmer zu übernachten und „lieh“ ihnen auch ohne Gegenleistung Geld. Solche Hilfsleistungen hat auch Čiurlionis mehr als einmal genutzt. Im Herbst 1907 wohnte er bei Sofija Gimbutaitė bis er das Zimmer in der Andrejewskaja-Straße gefunden hatte, indem Sie jetzt stehen. Selbst als er ausgezogen war, kam er jeden Tag zu dieser hilfsbereiten Frau zum Mittagessen. Manchmal, wenn er zu sehr beschäftigt war, brachte sie dem Künstler das Mittagessen auch in das von ihm gemietete Zimmer: „… Dieses furchtbar gute Wesen hat mir heute rote Rübensuppe gebracht und sie auf dem Herd aufgewärmt. Wenn ich bei ihr zu Mittag esse, richtet sie mir gelegentlich auch die Zähne“, bekannte Konstantinas Čiurlionis. Da er für das Mittagessen nicht bezahlen konnte, schenkte der Künstler Sofija Gimbutaitė sein in Grüntönen gehaltenes Gemälde „Schiff“. Sofija hatte auch den ersten Teil von Čiurlionis‘ Diptychon „Trauer“ gekauft. Vor dem Tod – sie starb im Oktober 1911 – verfügte sie mit einem Testament die Schenkung beider Gemälde an den Litauischen Kunstverein.
Die Anhänger des Litauischen Kunstvereins versammelten sich auch in der Wohnung von Marija Putvinskytė. Marija, die im Sommer 1906 nach Vilnius gekommen war, richtete hier ihre Zahnarztpraxis ein und schloss sich aktiv den Vorbereitungsarbeiten zur Ersten Litauischen Kunstausstellung an. Sie nahm an der Gründungssitzung und den Versammlungen des Vorstands des Vereins teil und half vielen seiner Mitglieder. Marija war eng mit Antanas Žmuidzinavičius befreundet, vertrat, wenn er im Ausland war, so gut es ging, den abwesenden Vorsitzenden und unterstützte Čiurlionis bei der Vorbereitung der Ausstellung. Sie machte Aufsicht in den Sälen und arbeitete an der Kasse und prägte sich außerdem ein, wie die Besucher auf die symbolistische Kunst reagierten. Als ein vermeintlicher Kunstkenner auf eines der Gemälde von Čiurlionis wies und laut auf Polnisch fragte „A to jaki wariat namalował?“ – „Hat das ein Verrückter gemalt?“, antwortete dieser gelassen, ebenfalls auf Polnisch: „A to ja“ – „Das war ich“ – und löste ringsumher Gelächter aus. Über Marija schrieb der Künstler in seinem Brief [an Halina Wolman], sie „ist eine Enthusiastin. Sie ist sympathisch und spielt Billard.“ Je länger er sie kannte, umso mehr überzeugte sich Čiurlionis von ihrem guten und großzügigen Charakter. Als er einmal nach Warschau fahren musste, um die Plakate für die Ausstellung zu lithographieren, war es Marija, die ihm die Zugfahrkarten besorgte.
Große, ja sogar exaltierte Aufmerksamkeit schenkte Čiurlionis die Journalistin und „Schreiberin“ Ona Pleirytė, die kurz zuvor den Laien-Literaten Kazimieras Puida geheiratet hatte. Beide arbeiteten in der Redaktion der Tageszeitung „Vilniaus žinios“ [Vilniuser Nachrichten]. Der an der Organisation der Ersten Litauischen Kunstausstellung beteiligte Puida fungierte zeitweise sogar als verantwortlicher Chefredakteur. Jedoch geriet die Ehe dieser beiden jungen Leute vermutlich in eine Krise, sodass Ona Pleirytė nach einem seelenverwandten Menschen zu suchen begann. Nicht selten tauchte sie in Čiurlionis‘ Nähe auf und verfasste außerdem nach Motiven seiner Gemälde unter dem Pseudonym „Vaidilutė“ [Hohepriesterin] Impressionen, die sie in der Presse veröffentlichte. Zum Dank für die Aufmerksamkeit schenkte der Künstler ihr sein Gemälde „Sehnsucht“, das in den Wirren des Ersten Weltkriegs verloren ging. Ona Pleirytė hat den Künstler und seine Werke recht treffend geschildert: „Čiurlionis‘ Gemälde sind ungewöhnlich. […] Ich habe viele europäische Museen besucht, jedoch nie etwas Ähnliches gesehen […] Ungewöhnlich ist auch Čiurlionis selbst – er ist einer von jenen Menschen, die alle Blicke und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch zugleich durch ihre besondere, tiefe Konstruktion Beklommenheit wecken. Er ist von mittlerem Alter und Wuchs, mit einem ausgeprägten, ja sogar scharf umrissenen Profil des Gesichts und eher unschön und trübsinnig. Doch seine großen, tief blickenden Augen, sein ruhiger Schatten von offenkundiger Traurigkeit und seine ungewöhnliche Intelligenz heben ihn aus jedem Umfeld heraus.“
„Das sind nun alle […] sogenannten handelnden Personen, in der Komödie oder in dem Drama, an dem ich lebhaft teilnehmen muss“, beschloss Čiurlionis scherzhaft seine Präsentation der Menschen, denen er in Vilnius begegnet war.